Samstag, 30. Mai 2009

Impressionen vom Wave-Gotik-Treffen 2009

Jetzt sitz ich wieder hier in Berlin. Einige Tage sind schon verstrichen, mehr müssen wohl noch verstreichen, bis ich den Eintrag fertiggestellt haben werde - und es fühlt sich seltsam an.

Seltsam wieder in dieser Normalität zu sein, seltsam wieder den gewohnten Wegen nachzugehen. Das Wave-Gotik-Treffen hat einen tiefen Eindruck in mir hinterlassen und reizüberflutet wie ich war, versuch ich das jetzt alles mal so nach und nach zu verarbeiten und aufzuschreiben. Mal sehn, wie lang das wird.

Zunächst werde ich mal einigen Impressionen Leipzigs nachgehen. Leipzig kenne ich schon sehr lange und irgendwie ist es auch meine heimliche Liebe. Ich bin wirklich sehr gern in Leipzig und vielleicht auch, weil ich es dort sehr mag, fallen mir negative Dinge eher auf als anderswo. Die vier WGT-Tage standen vor allem im Zeichen von Überwachung und Kontrolle. Irgendwann hab ich mal gehört, Leipzig sei die Stadt mit der größten Dichte an Überwachungskameras in ganz Deutschland. Das allein ist schon erschreckend genug, findet sich doch immer irgendwo ein beobachtendes Objektiv. Ob nun Richtkameras auf den Dächern, überwachte Plätze oder Kameras in den Straßenbahnen, sie sind wirklich überall. Und mit ihnen eine sehr deutsche Mentalität von Überwachung, Ordnung und Sauberkeit. Auf den Flimmerpendants zum Berliner Fenster wird in den Straßenbahnen stolz von Freiwilligen berichtet, die Stadt und Bahn sauber halten und die Leipziger Verkehrsbetriebe halten ein extra Internet-Formular und großzügige finanzielle Anreize für durch treue Bürger_innen geschnappte Sachbeschädigende bereit. Und wer zerkratzte Scheiben auf öffentlichen Verkehrsmitteln für normal hält, wird in Leipzig eines besseren belehrt. Ein einziges Scratching auf einer Scheibe und daneben schon ein LVB-Aufkleber, der entschuldigend den Austausch der Scheibe gelobt. Das Urbane der Gegenwart wird sorgsam aus dem Straßenbild getilgt und der kleingeistigen Provinz Platz zur Entfaltung gegeben. Still muss es in Leipzig sein, wenn die Nacht hereinbricht und nicht gerade 20.000 Gothics durch die Straßen strömen. Andererseits wäre dies auch ein vernichtendes Urteil in derlei Einseitigkeit. Trotz allem ist Leipzig lebendig und durchzogen von Freigeistern. In den Straßen künden ab und zu Bilder und Kreationen davon. Von den, um wichtige Forderungen ergänzten FDP-Plakaten ("Für Gentechnik im Essen") hin zum allbekannten Rage against the machine-Motiv auf der Hauswand, es ist halt doch noch "the battle of L.E." - dass die Kameras, der Zwang und die Kontrolle noch lange nicht gewonnen haben. Das Unfertige, Formbare und der Aufbruch sind an vielen Ecken Leipzigs zu spüren und jeden Tag aufs Neue ringen Urbanität und Provinz miteinander.

Das Wave-Gotik-Treffen passt da ganz gut rein.

Was genau ich mir vom Wave-Gotik-Treffen versprach kann ich gar nicht mehr genau rekonstruieren, ist vermutlich auch gar nicht nötig, denn eigentlich wurden alle Erwartungen nur übertroffen.

Selten hatte das ethnologische Herz so viel Freude beim Austoben - und wird wohl in keiner Szene so offensichtlich fündig, wie in der derzeitigen "Schwarzen Szene". So viele Unterszenen, Weltanschauungen, Lebensweisen und mehrere Jahrzehnte Geschichte geben ihr Halt - auch wenn wenig verbindet, nichts trennt tief genug. Ich selbst verorte mich "nur" in einer der mittlerweile marginalen Bestandteile der Szene. In den wenigen Jahren, in denen Punk zu Gothic wurde, bin ich daheim, die (vor allem deutschen) Dunkelpunkbands wie Fliehende Stürme und EA80 haben nur mittelbar etwas mit Gothic zu tun und doch waren ihre angloamerikanischen Pendants irgendwann mal das was Gothic ausmachte. Dunkler Post- und Wave-Punk, der sich nicht auf Parolen reduzieren ließ und dessen Lebensgefühl intensiv und eigenständig genug war, eine neue Szene zu werden. Neben Vertreter_innen dieser frühen Gothicformen mit hochtoupierten Irokesen, ein wenig Schminke, Buttons und (hoffentlich Kunst-)Lederjacken und alles in allem noch recht punkorientierten Accessoires ist die Szene seit den späteren 80ern und 90ern deutlich vielgestaltiger geworden.

Metal hat genauso Einzug gehalten, wie Mittelalter-Verehrende, Cybergoths kamen hinzu, Barock und Romantik bilden einige ästhetische Bereicherungen, EBM-Leute, die teilweise an den Neonazi-Chic der 90er erinnern und vielfältige Fetisch-Outfits ergänzen das Repertoire, das noch deutlich weiter reicht.

Grob sind mir auf dem Festival einige Trennlinien aufgefallen. Sind durch die Punkwurzeln in den älteren Teilen der Szene Kreativität und schaffende Individualität noch wichtige Werte, ist in neueren Szenen ein beklagenswerter Hang zum Konsumismus zu verzeichnen. Schaue ich mir viele der Cyber-Goth-Outfits an, sind diese höchstens mehr oder weniger geschmackvoll zusammengestellt, bloß gekauft sind all ihre Bestandteile trotzdem. Auch wenn das doch noch ein gutes Stück von Uniformierung entfernt sein mag, Individualität in den verschiedenen Farben der Plastikschläuche in den Haaren, der Kontaktlinsen oder Einsätze in den Schweißerbrillen zu suchen, ist mir dann doch zu wenig. Auch inhaltlich ist diese, vor allem Jüngeren vorbehaltene Szene, nicht besonders ergiebig. Freizügig werden gesamtgesellschaftliche "Schönheits"normen reproduziert und jede_r kann mitmachen, so lange die Figur stimmt. Gesichtszüge wiederum sind egal, ein regelrechter Mundschutzkult verdeckt eh das Meiste. Viele Werte werden hier leicht über Bord geworfen.

EBM wiederum vergisst mit dem Hang zum Militarismus und hypermaskulinem Auftreten einen wichtigen Aspekt vergangener Gothic-Tage: Androgynie. Die sexuelle Offenheit und das Anerkennen verschiedenster Sexualitäten und Geschlechtsentwürfe ist einer der Gründe, warum ich Gothic viel abgewinnen kann. Auch das WGT wirkte auf mich wie ein Freiraum zum experimentieren und ausprobieren verschiedener Körperlichkeiten. Und das hat sich sehr schön angefühlt.

Das explizit Politische der Gothics ist durch Metal, EBM und andere Einflüsse auch immer geringer geworden, Gegenwarts-Kern-Gothics haben kaum politische Standpunkte, die ihnen allen zu eigen wären. Durch die insgesamt höhere Bildung der Durchschnittsgothics können natürlich ähnliche Standpunkte gefunden werden, die jedoch eher auf die Herkunft aus dem Bildungsbürgertum, denn aus der Schwarzen Szene verweisen. Einen Reiz versprüht dieses Gemisch trotz alledem. Denn noch immer sind Individualität und Freiheitlichkeit, Werte die oft vertreten werden. Persönliche Freiheiten spielen in all den - zum Teil kruden - Weltanschauungen eine Rolle und oftmals nicht die geringste.

Bei den zur Schau gestellten Inszenierungen musste ich mich allerdings auch fragen, inwieweit da überhaupt noch ein Sinn für Unangepasstheit besteht. Wiederum die "neueren" Szenebestandteile wankten oft auf den schmalen Graten zwischen persönlicher Ästhetik und Szeneoutfit, sowie sorgsamer Inszenierung und Fasching. Der Trend zu fragileren, täglich wechselnden Szeneidentitäten hat auch hier Einzug gehalten. Mögen die Menschen im Alltag "normal" aussehen, leben sie sich auf solchen Treffen aus. Das macht zum einen den Alltag grauer und die Menschen angepasster. Ich will nicht den befreiendn Charakter einer "Feiertagsinszenierung" leugnen, find es jedoch mehr als schade, dass der Widerstand im Alltäglichen mittlerweile nicht mehr zum Gothic-Standardrepertoire gehört (wobei zu fragen wäre, wie viel da überhaupt jemals über Äußerlichkeiten lief). Konsequente Lebensweise sieht jedenfalls anders aus.

Aber es gab ja auch noch Konzerte. 192 Bands plus minus ein paar sollen dann wohl wirklich dort gewesen sein. Allein die Zahl lässt seufzen. Anstatt jetzt über Preis, Leistung und Un/möglichkeiten zu diskutieren, lieber gleich zu denen, die ich mir angeschaut hab. Mein persönliches WGT-Programm war recht strukturkonservativ, ich hab mir meine Lieblingsbands angeschaut und jene, die ich schon immer mal sehen wollte, aber die mir für ein Einzelkonzert dann doch zu wenig geben würden. Viele sind da leider auf der Strecke geblieben, vor allem von den alten Post-Punk-Bands hab ich deutlich weniger gesehen, als ich gern gewollt hätte - aber da zumindest ich noch nicht die Rezeptur für gleichzeitiges an-mehreren-Orten-sein gefunden habe, muss ich mich mit dem begnügen was ging. Und das war auch schon mehr als in den Kopf passte. Viele Erinnerungen konnten sich gar nicht setzen, weil sie von neueren verdrängt wurden - so intensiv waren diese vier Tage.


Freitag

Nach der freitagmorgendlichen Anreise, dem Versuch Zelte auf Betonboden aufzubauen, dem Eintrudeln der weiteren Zeltgruppenangehörigen und dem Auschecken des Tagesprogramms, ging es erst einmal halbwegs kollektiv zu L'Ame Immortelle. Als nicht sonderlich mit den Szeneschlagern vertraute Person konnte ich damit recht wenig anfangen. Hauptbestandteile waren die ziemlich gut vorgetragene und breit im Gothic ausgefahrene Selbstmitleidsschiene, deutsche Texte, ein Schuss Romantik und wenig Verwertbares. Mir ist vor allem ein ziemlich abstoßendes Selbstverletzungslied in Erinnerung geblieben, welches mir durch Schmerz/Blut/Selbstverletzungsästhetik in Verbindung mit der Vorstellung (sehr junger) psychisch labiler Hörer_innen negativ auffiel.
Unterhaltungswert war trotzdem relativ hoch, aber auch recht eintönig.

Die nächsten in der riesigen Agra-Halle - deren Name eigentlich schon alles sagt - waren Combichrist. Ikonen neuerer Teile der Szene und nichts für mich. Der Anfang war noch recht kraftvoll, aber schnell verlor ich den Gefallen daran. Kann nicht wirklich die Vorzüge dieser Art von Musik erkennen, weil es teilweise noch nicht mal tanzbar klang - was soweit ich das abschätzen kann, ja schon "das" Kriterium zur Güte "solcher" Musik (Wikipedia meint: "Schnittmenge zwischen Aggrotech und Rhythm ’n’ Noise...was auch immer) ist.

Auch wenn ich jetzt vielleicht ungewollt in das Klischee von Elektro vs. Gitarrenmusik reinfalle, aber: ich war froh danach zu einem Konzert einer "richtigen" Band mit "richtiger" Musik zu gehen. Ist natürlich Schwachsinn, aber in dem Moment war der Gedanke sehr erbaulich.

Mit My Dying Bride im Kohlrabizirkus (auch sehr große Location mit riesigem Kuppeldach) waren dann aber doch gleich Menschen angetreten, die ganz andere Ästhetiken pflegten. Gothic, Doom und Metal fanden sich da zusammen zu einer wunderschönen, tief schmerzigen Mischung, welche als große Kunst durchgehen kann. Besonders einprägsam war der blutverschmierte Sänger, dessen Energie die gesamte Veranstaltung trug. Zwischen von Grund auf zerstört, tief leidend, wütendem shouten und den dazugehörigen musikalischen Untermalungen war alles dabei, was ein hochemotionales, technisch gutes Konzert braucht. Eines meiner absoluten Highlights des WGT. Mehr als beeindruckend.


Samstag

Samstag stand im Zeichen eines umfassenderen Herumstreunens in Leipzig. Gleich morgens wollten wir uns Krabat im Kino in der Innenstadt anschauen, leider waren viele andere auch auf die Idee gekommen und die Vorstellung war bereits "ausverkauft". So schauten wir kurz bei der Absintherie Sixtina vorbei und brunchten später an der Thomaskirche. Eine Spaltung später spazierten wir durch den Kulturpark Clara-Zetkin und hörten schon von weitem The Prostitutes. Die Getränkebeschränkungen veranlassten uns, dem Ganzen nur akustisch zu folgen, klang trotzdem ziemlich schön. Schön synthie-post-punkig alt.
Danach folgten Zin, ein Leipziger Placebo-Verschnitt und Mono Inc.. War beides eher unspannend für mich. Kann auch dran liegen, dass sie nur die Zeit bis Die Art verkürzen sollten. Jene wiederum haben ein sehr schönes Konzert hingelegt. Spielten sie zu Beginn Lieder vom neuen Album, denen ich erstaunlich wenig abgewinnen konnte, verlagerten sie den Schwerpunkt glücklicherweise recht schnell auf die vielen Klassiker. Höhepunkt war für mich wie immer "Das Schiff". Aber auch "Eternal Fall" und andere trugen zum gelungenen Gesamtbild bei. War das schon sehr schön, stellte sich jedoch kurz darauf eine bedeutendere Frage:

Wie könnte ich von einem Festival schwärmen, auf dem mir nicht mindestens ein Konzert begegnet ist, das mich tief bewegt und berührt hat?

Diesen Part durften auf dem WGT Theatre of Hate übernehmen. Die hießen bis 1983 so, waren vorher The Pack und machten danach als Spear of Destiny weiter. Die Besetzungen wechselten, Kirk Brandon der Sänger, war und ist das Zentrum. Ich kannte "Propaganda" von Youtube und war von diesem so begeistert, dass ich das Konzert gern sehen wollte. Schwankend, ob sich diese Odysee lohnen würde, hetzten wir dann doch noch von der Parkbühne los und kamen pünktlich zur Mitte des ersten Liedes im Felsenkeller an. Diese schöne Location, mit einer großen Tanzfläche und links und rechts jeweils Emporen, war gesäumt von lauter Dunkelmenschen der alten Tage. Es war sehr beruhigend zu sehen, dass nicht überall nur Cybergoths, Metalheads und Mittelalterfreaks rumhingen, sondern auch Batcave und Dunkelpunkgestalten wenigstens noch ihren Weg aufs WGT finden. Wenn vermutlich auch nicht mehr so zahlreich wie früher.

Wie schon angedeutet, war der Auftritt sensationell. Auch wenn viele der Spear of Destiny-Lieder Saxophon- und Backgroundsängerinnenuntermalt sind, war die klassische Bass, Gitarre, Drums, Sänger-Konstellation anzutreffen. Die Lieder waren ein Streifzug durch viele Zeitalter des Kirk Brandon-Universums und vermochten allesamt durch seine außergewöhnliche Stimme zu begeistern. Wenn er nur lange genug einen Ton hielt, kam die Gänsehaut von ganz alleine. Das lässt sich mit Worten kaum beschreiben, wie intensiv seine Stimme es vermochte, Zeit und Raum zugunsten eines unbestimmten Glücksgefühls verschwinden zu lassen. Höhepunkt war für mich eindeutig das Stück "Grapes of Wrath". Das Lied an sich ist bereits wunderschön, die Darbietung auf dem WGT fügte dem noch viele Facetten hinzu. Viel löste es in mir aus. Am Ehesten lässt sich das vielleicht damit beschreiben, ein verloren geglaubtes Fragment einer glücklichen Zeit wieder zu finden, eine Erinnerung an die oft übertrieben als glückselig stilisierte Kindheit - wobei es mehr Ahnung denn Erinnerung an jenen imaginierten Zustand ist, der sich so vollkommen und nur in den Grenzen des Bewusstseins anfühlbar darstellt. Eine Grenzerfahrung der ganz besonderen Art. Vermutlich auch dadurch begünstigt, dass ich das Lied vorher nicht kannte. Danach kam noch mein eigentlicher Liebling Propaganda. Leider vermochte es seine Stimme nicht mehr, die Dramatik des Stückes und seiner wunderschönen Variation ganz zu halten - wobei das wohl auch schwierig sein dürfte. "Do you believe in the Westworld" bildete den Abschluss.

VNV Nation in der Agra-Halle waren dann die letzten für unseren Abend. Vorher noch das Publikum des Feindflug-Konzertes hinausströmen gesehen und froh woanders gewesen zu sein. VNV Nation waren zu recht Headliner des Tages, sehr gute elektronische Musik paarte sich mit einer ausstrahlungsstarken Livedarbietung selbiger. Für mich nicht weltbewegend, aber sehr schön anzuschauen.

Sonntag

Der Sonntag wurde eröffnet durch einen Besuch des Heidnischen Dorfes. Acht Euro Eintritt bezahlen Menschen ohne Festivalbändchen. Ganz schön unverschämt. Unverschämt deshalb, weil die Leistung eigentlich nur darin liegt, Einlass in eine (wenn auch sehr schick) dekorierte Konsumwelt zu verschaffen. Na gut, vermutlich gibt es Menschen, denen sehr viel an ihrem Eskapismus liegt und die da viel Freude dran finden. Eskapismus ist glaub ich ein ganz gutes Stichwort. Wikipedia sagt: Als Eskapismus, Realitätsflucht oder Wirklichkeitsflucht bezeichnet man die Flucht aus bzw. vor der realen Welt und das Meiden derselben mit all ihren Anforderungen zugunsten einer Scheinwirklichkeit (imaginären Wirklichkeit). Ich sage, genau das und noch viel mehr war dieser Mittelaltermarkt. Exemplarisch kann ich das vielleicht am Grad der Ausbeutung nichtmenschlicher Tiere verdeutlichen. Viele Stände glorifizierten Produkte tierlicher Herkunft aus einem seltsamen Gemisch von Mythos und Gewaltkult heraus. Dass die meisten Menschen des Mittelalters aufgrund ihrer landwirtschaftlichen Gebundenheit nur zu hohen Feiertagen Fleisch und andere Tierprodukte konsumierten, wirft ein elitäres Licht auf Schwein vom Spieß etc. und ihre verkleideten Henker_innen. Dass diese Tiere vermutlich in der gegenwärtigen Massentierhaltung groß geworden sind, passt wieder zur verklärenden Realitätsflucht. Kitschige Kostüme erinnern an die Einbildung und Romantisierung einer ebenfalls gewalttätigen Vergangenheit. Auch wenn mein Wissen über heidnische Religionen beschränkt ist, bin ich relativ überzeugt davon, dass emanzipatorische Ansätze aus diesem Gedankenspektrum heraus, mit der Lupe gesucht werden können. Alles in allem ziemlich unangenehm. Zumal es wie gesagt, großteils ein absolutes Konsumfest war. Es gibt glaub ich so einige andere Zeitalter und Denkformen, in die zu flüchten sich mehr lohnen würde...

Später am Tag dann wieder etwas ungleich Positiveres. Fliehende Stürme, mal wieder einer der Gründe irgendwohin zu gehen, spielten in der riesigen Agra-Halle. Vorher saßen wir noch mit einem feinen Sternburg Export in der knallenden Sonne am Rand der Flaniermeile und haben uns satt geschaut. Auch wenn das mit dem Auftritt alles ein wenig skurril wirkte (viel zu große Bühne, viel zu große Halle, monströse Soundanlage), war es ein toller Auftritt. Auf 40 Minuten heruntergebrochen, war alles dabei was nie fehlen darf. Ein Schluck Bier und ein Dankeschön waren die einzigen Unterbrechungen eines Sprints durch alle Schaffensphasen. Beste Pogo-Stimmung, einige ruhige Momente und viel Gefühl. Brachte der Gedanke an die Kürze des Auftritts vorher noch ein unmutiges Grummeln hervor, so war dieser Extrakt eine mehr als gelungene Abwechslung zu den normalen Auftritten (auch wenn ich das zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste, aber ich sollte sie kurz danach eh in gewohnter Länge in Potsdam sehen. So kanns gehen).

Danach noch für Frank the Baptist geblieben. War allerdings relativ blöd gelaufen. Die anfänglichen Lieder waren recht lahm, vermutlich war ihr Programm auf Spannungsaufbau ausgelegt, denn die letzteren wurden langsam besser. Doof an dem Konzept nur, dass sie sich in der Zeit verschätzt hatten. Sie wurden abgewürgt und mussten gehen, bevor sie ihre bekanntesten Sachen spielen konnten. Schade eigentlich.

Den Abend für uns beschlossen ASP. Darüber werd ich jetzt gar nicht viele Worte verlieren. Für einen Gothic-Headliner gehören sie zu den sympathischeren. Konsequent für Indvidualismus und gegen regressive Tendenzen in der Gothic-Szene positioniert (z.B. mit dem Konstantin Wecker-Cover "Sage nein"). Musikalisch überzeugten sie mich nur teilweise. Dafür war die Bühnenshow mehr als groß. Würde ich auf Entertainment stehen, wäre dieses Konzert wohl ein persönliches Highlight des WGT gewesen. So empfand ich die meterhohen Feuerwände nur als Augenwischerei. Ohne dieses Getrickse wäre jedoch trotzdem ein solides und zu Teilen echt schönes Konzert einer wichtigen Institutionen des deutschsprachigen Gothics übrig geblieben.

Montag

Am letzten Tag nun war aufräumen, packen und letzte Pläne machen angesagt. Nach dem Verabschieden schaute ich mir noch Inkkubus Sukkubus, Nosferatu und UK Decay auf der Parkbühne an. War eigentlich wegen UK Decay dort, aber das hätte ich mir wohl auch sparen können. Die beiden anderen Bands kannte ich vorher nicht und fand sie auch nicht sonderlich weltbewegend und bei UK Decay hatte dann nicht mal mehr das Wetter Lust und so blieben nur die Feststellungen, dass UK Decay großteils nicht tanzbar war, der Sänger ein ziemlicher Freak war (im positiven! Erinnerte mich manchmal sehr an Junge von EA80 mit seinen Akrobatiken und "Einfällen") und Regen naß ist.

Der Rest der Gruppe war zwischenzeitlich dann doch noch bei Qntal reingekommen und so ging ich noch eine Weile durch das bereits sommerlich angehauchte Leipzig, das statt Regen Sterne bereit hielt. Irgendwann setzte ich mich auf die Treppenstufen eines Gebäudes, das sich mir erst später als die geschichtsträchtige "Runde Ecke" offenbart. Schräg gegenüber war das Schauspielhaus und bevor wir Leizpig nun verlassen wollten, hatte ich so schon etwas Gelegenheit die letzten Tage Revue passieren zu lassen...