Beginnen wir philosophisch. Angenommen. Höchste Freude und tiefste Traurigkeit sind nicht zwei Enden einer starren Skala, sondern nur Extrempunkte auf einem fast geschlossenen Kreis, welche sich berühren, wenn die Intensität der Emotionen das rein geistig Fassbare übersteigt und für den Moment alle konkurrierenden Gedanken auslöscht. Sozusagen so lange Strom auf den Kreis jagen, bis der Funke überspringt. Dann bildet sich zwischen den Extrempunkten ein Kontinuum, in dessen Gefangenschaft ein ständiges Schwanken zwischen ihnen unabwendbar ist. Umgangssprachlich verewigt in der Redewendung "Himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt".
Mag es ein hohes Glück oder eine Freude sein, Songs von EA80 zu hören, so wohnt ihnen doch stets ein bittersüßer Beigeschmack inne. Zutiefst verlorene, melancholische oder auch nur philosophisch-relativistische (wenn nicht gar zuweilen nihilistische) Lyriken verbinden sich da mit einem Musikstil, an dessen Beschreibung die Expert_innen virtueller Genre-Grenzen erst einmal Zähne werden lassen müssen. Intensiviert werden diese Gefühle gegenüber den zwei Buchstaben und den zwei Ziffern zweifelsohne live. Wie stark, das zeigen, glaube ich, schon ein paar Sätze des Berichts von meinem ersten EA80-Konzert: "Zitternd und völlig ohne klaren Gedanken verließ ich den Ort des Geschehens und kam erst am Bahnhof so langsam wieder zu mir" oder "Mir fallen gar nicht genügend Worte ein, um ihre Wirkung auf mich auch nur annähernd zu beschreiben". Grundlegend gewandelt hat sich das auch mit diesem Wochenende nicht, aber es sind viele Momente hinzugekommen, die das Bild nicht nur in einzelnen Facetten ergänzten, sondern neue, in kräftigen Strichen gepinselte Formen und Konturen haben sichtbar werden lassen.
Die Fakten sind recht langweilig. EA80 hat es mal wieder geschafft aus Gladbach rauszukommen und gleich zwei Konzerte in Berlin und Leipzig absolviert. An zwei aufeinanderfolgenden Tagen. In meinen beiden Städten. Tickets schon seit Wochen/Monaten reserviert. Menschen an den Bahnhöfen der Stadt eingesammelt, zum SO36 gepilgert.
Am Einlass hing ein schlichtes Schildchen, dass EA80 um 21.46 Uhr anfangen wird zu spielen. Noch erstaunlicher als diese Zeitangabe war dann aber zweifellos, dass sie wirklich auf die Minute genau 21.46 Uhr die Bühne betraten. Vorher durfte sich jedoch noch eine scheinbar masochistisch veranlagte Trash-"Band" vom Publikum ausbuhen lassen, die sich "The German Folk Orchestra" oder so nannte und einfach nur grottig war. Auch wenn ich viel für Trash übrig habe, wirkte das weder nach gelungenem Drag, noch nach Ironie oder Stil, sondern einfach nur wie Fasching und verlorene Wette.
Schnell vergessen jedoch bei den ersten Klängen der alten, nie gerosteten Jugendliebe.
Der großen Stadt setzten sie ihre "kleine Welt" entgegen. "Licht" brachten sie. Und so weiter...und so fort. Jedes einzelne Lied eine Erinnerung oder auch mal zwei-drei. Unter den vielen dutzend Liedern ihres beinahe 30jährigen Schaffens konnten sie sich kaum ein falsches auswählen, denn in irgendeiner Art und Weise war jedes für sich genommen bereits genug. Hauptsache EA80. Über "was hätten sie spielen sollen" kann nach dem Konzert philosophiert werden, sie können sowieso nie alles spielen und natürlich fehlt immer eins oder zwei, die sie "unbedingt hätten spielen sollen". Auch wenn sie von den - für mich - ganz Großen diesmal nicht so viele spielten, es reichte. Bei Weitem. Allein schon so ein Stück wie "200m und danach" fühlt sich auch nach all den Jahren noch wie eine Offenbarung an (dass Junge live an der Stelle "das Leben ist grausam" den zweiten Halbsatz "und sicher in diesem Moment" einfach mal ausließ, mag dazu beitragen).
Wieder wurden die unterschiedlichsten Menschen von EA80 angezogen. Der Altersdurchschnitt mag wohl an beiden Abenden knapp über 30 gelegen haben - viele von ihnen jahrelange Fans. In den ersten Reihen war davon wenig zu spüren. Der Pogo war großteils jünger und teilweise doch arg egozentriert. Da haben manche Menschen ihre und die Grenzen anderer doch ganz schön überschritten. Bei den meisten von jenen schienen Alkohol oder andere Drogen dieses Verhalten zu erklären. Erstaunlich wie drei-vier Menschen einen ganzen Pogo-Mob aus dem "Takt" bringen können. Tendenziell arg nervig. Dadurch war dann aber auch meiner latenten Mosh-Neigung Vorschub geleistet und bis auf die paar blauen Flecken und den schmerzenden Ellenbogen danach, ein schönes Körpergefühl.
Und so verronn der Abend nach und nach. Die meisten Lieder in den Beinen verschwunden und von den Stimmbändern reflektiert, einige unter Augenlidern - alle vom Herzen aufgesogen.
Aber wie schon erwähnt, die ganz Großen fehlten. Nicht. Es war ein unglaublich schönes Konzert und hätte es auch bleiben können. Wäre da nicht die Zugabe gewesen. Häuser.
...und alles war vorbei. Sie haben dieses Lied unendlich lang gestreckt und gegen Ende schrie Junge den Part, der auf der Neuaufnahme von 2004 im Hintergrund läuft. Dieses tief verzweifelte Schreien, welches von ganz ganz unten zu kommen schien und mich brach. Natürlich habe ich mitgeschrieen. Nicht nur mit geschrieen, ich habe mich richtiggehend leer geschrieen. All der Frust, all die Erinnerungen, die Erfahrungen, den Schmerz, das komplette Sein einfach weggeschrieen. Als das Lied endete, verblieb ich zitternd mit Tränen in den Augen.
Möglicherweise der Punkt, den ich zu Beginn beschrieb. Zwischen Ekstase, Verzweiflung und Leere - oder anders gesagt: "Mein Haus ist schwarz/ und es steht allein/ es hat keine Fenster/ und niemand kommt rein".
Dieser großartige Moment hat es gekippt. Er hat das Konzert einzigartig und bewusstseinserweiternd werden lassen. Viel Zeit zum Verweilen blieb nicht, denn schon wurde ich wieder mitgerissen - sie stimmten zu "Auf Wiedersehen" an. Und besiegelten den Abend damit. Durchgeschwitzt, heiser, alle Knochen am Sich-beschweren und beglückt. Ein kühles Sternburg geholt und durch Kreuzberg am Kanal entlang nach Hause.
1 Kommentar:
Heidewitzka, fein geschrieben. Respekt!
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